Eine muslimische Superheldin ist tot und alles was wir bekommen haben, ist ein mittelmäßiges Comic
Willkommen bei Fan Theory of Everything, einem Newsletter über Superheld*innendebatten, -gossip und Comics. Mal funny-haha, mal funny-merkwürdig, mal beides. Es ist ein Versuch, eine Schneise durch das dicht verflochtene Gestrüpp zu schlagen, das über 90 Jahre Superheld*innengeschichte hervorgebracht haben.
Unterstützen könnt ihr meine Arbeit mit 1 € Trinkgeld auf Kofi oder einem Abo. Subscriber*innen bekommen Zugang zu Zusatzinhalten wie Comictipps, Serienbesprechungen und dem Substack Chat, wo mir weitergehende Fragen gestellt werden können.
Es ist Pridemonth. Und während der Comicverlag DC das mit einer Sonderausgabe von unterschiedlichen namhaften queeren Künstler*innen und einer klaren Bekennung zu LGBTQIA-Rechten feiert, lässt Marvel die populärste muslimische Superheld*in sterben: Kamala Khan aka Ms. Marvel. Wenn es so klingt als sei ich genervt, dann liegt das daran, dass ich sehr genervt bin.
Es geht mir nicht um den Tod selbst. Comicfiguren sterben permanent. Die Mehrheit aller Superheld*innen sind Waisen und gelegentlich muss auch der ein oder andere Onkel dran glauben. Trauma treibt die Handlung nach vorne, verkauft sich gut und sorgt für eine besondere Beziehung zwischen Figur und Leser*in. Mir ist das bewusst. Ms. Marvels Tod beinhaltet allerdings so vielen problematische Ebenen. Man hat das Gefühl, alle Fettnäpfchen, in die Comicautor*innen so treten können, wurden zu einem riesigen ekligen Fett-Pool zusammengeschüttet, um effektiver mit einer Arschbombe hineinhüpfen zu können.
Angefangen hat das Ganze im Februar, als Marvel „The Most Shocking Issue of 'Amazing Spider-Man' in 50 Years“ ankündigte. Warum 50 Jahre? 1973 erschien The Amazing Spider-Man #121, in dem Spider-Mans damalige Freundin Gwen Stacy tragisch stirbt. Das Heft gilt heutzutage als viel zitierter Eckpfeiler der Comicgeschichte, aber auch als durchaus problematisch. Die Erzählung vom oft unnötig grausamen Tod einer weiblichen Nebenfigur, die die Gefühlswelt des männlichen Protagonisten bereichern soll, ist mittlerweile so häufig wiederholt worden, dass man in den Neunzigerjahren angefangen hat, das Ganze als „Friding“ zu bezeichnen (Angelehnt an eine brutal ermordete und in einen Kühlschrank gestopfte Frau in einem Green Lantern-Comic). Bei einigen im Marvel-Redaktionsbüro scheint das aber nicht angekommen zu sein. Partyhut auf, wir feiern den fünfzigsten Jahrestag eines Mords an einer weiblichen Comicfigur mit einem anderen Mord an einer weiblichen Comicfigur oder so.
Mitte Mai postet dann jemand mit dem Handle Kevykev2008 auf Reddit eine abfotografierte Comicseite. Zusammengekauert hält darauf Spider-Man den leblosen Körper von Ms. Marvel in seinen Armen. Mehrere trauende Personen stehen um sie herum. Wie genau es zu diesem Leak kam, weiß niemand so wirklich. Der Verlag selbst hatte sich eigentlich große Mühe gegeben, geheim zu halten, welcher der vielen Charaktere stirbt. Marketingmaterial und das Comic selbst versuchen Spider-Mans Ex-Freundin MJ als wahrscheinlichstes Opfer zu präsentieren. Händler*innen erhalten die Hefte eigentlich nur wenige Tage vor dem offiziellen Release. Gepostet wurden die Seite allerdings schon mehrere Wochen vorher. Als die Illustrationen im Internet zu zirkulieren beginnen, reagiert Marvel schnell. Über die Popkulturnews-Page Entertainment Weekly zeigen sie noch nicht veröffentlichte Seiten und geben bekannt, dass Ms. Marvel in The Amazing Spider-Man #26 sterben wird. Im Juli soll es in Fallen Friend: The Death of Ms. Marvel dann um die Auswirkungen des dramatischen Todesfalls gehen.
Die Comic-Community reagierte wie erwartet. Während viele wütend darüber waren, dass Kamala Khan in einer Serie stirbt, in der sie maximal auf zehn der geschätzten 600 Seiten vorkommt, feierte der toxische Bodensatz von rassistischen #comicgate-Anhängern den Tod der muslimischen Superheldin. „It's comics. It's soap! Characters die and come back. But there's a diversity "rule" that's been broken. When you only have one, you treat that one with care“, twittert wer sichtlich verletzt. Ein Ms. Marvel-Fanaccount erstellt „I survived the fridging of Kamala Khan“-Poster. Hätte die Marvel-Redaktion eine kurze Sekunde nachgedacht, hätte sie diese Reaktion erahnen können. Nichts daran überrascht. Offenbar hat man abgewogen, ob sinnvolles Storytelling wichtiger ist oder die erhöhten Verkaufszahlen durch einen namhaften sterbenden Charakter und sich für letzteres entschieden.
Was dem Ganzen die Krone aufsetzt, ist, dass niemand wirklich glaubt, dass Kamala lange tot bleibt. „In response to the Kamala news, a lot of people tweeted ‚Don't worry. She'll be fine. Characters in comics die and come back all the time.‘ And it's like, yeah. That's a problem“, schreibt Videoblogger Nando Movies. Der emotionale „Schock“ den Marvel groß angekündigt hat, bleibt aus, weil das Motiv von sterbenden und wiederkehrenden Superheld*innen so oft verwendet wurde, dass der Effekt von Trauer ausbleibt. Was bleibt, ist nur eine milde Genervtheit.
Nach dem Leak und der öffentlichen Ankündigung zu The Amazing Spider-Man #26 habe ich auf Twitter einen Thread darüber gemacht, warum ich glaube, dass Ms. Marvel nicht lange tot bleiben wird. Viele andere sind separat zum gleichen Ergebnis gekommen. Hier noch mal in kurz: Rein wirtschaftlich ist die Figur eine wertvolle Marke. Kamala hat ihre eigene Spielfilmserie und mit dem im November erscheinenden The Marvels ihren eigenen Film. Der Verlag wird diese Bekanntheit nutzen wollen, was schwerer ist, wenn die Figur in den Comics nicht lebt. Im Film-Universum gehört Ms. Marvel zu den Mutant*innen (X-Men etc.), im Comic-Universum ist sie eine Inhuman (Mehr dazu in einem meiner älteren Newsletter). Außerdem werden Mutant*innen in den Comics seit einer Weile reihenweise durch das sogenannte Ressurection Protocol wiederbelebt. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Marvel Kamala vor Ende des Jahres auf diese Art zu einer Mutantin umschreibt und ihr pünktlich zum Film eine eigene Reihe gibt.
Mir ist bewusst, dass kapitalistisch geprägtes Storytelling immer ein wenig mit Vorhersehbarkeit und Wiederholung einhergeht. In diesem Fall hatte ich allerdings tatsächlich die naive Hoffnung, dass der Verlag die Sache mit ein wenig mehr Fingerspitzengefühl angeht als sonst. Nicht, wenn man damit rechnen kann, dass sich Rassist*innen über den Tod freuen werden. Nicht, wenn offen islamophobe Politiker*innen in Parlamenten sitzen. Und definitiv nicht auf eine Art und Weise, die sich respektlos und sinnbefreit anfühlt. Do better, Marvel!
Superheld*innen-Nachrichten diese Woche:
Spider-Man – Across the Spiderverse kommt in die deutschen Kinos.
LEGO-Künstler stellt den Trailer zu Across the Spiderverse mit LEGOs nach.
Insomniac veröffentlicht erstes Gameplay-Material zu Marvel’s Spider-Man 2.
Sydney Sweeney wird Julia Carpenter aka die zweite Spider-Woman im Madame Web-Film spielen
Tiktoker spielen eine Szene aus Guardians of the Galaxy Vol. 3 nach. Ein Tiktokfilter unterstützt das noch.
Guardians of the Galaxy Vol 3.-Regisseur James Gunn veröffentlicht Setfotos auf seinem Instagramaccount [1,2] und das vierminütige Intro des Films.
Deadpool-Dreharbeiten starten trotz des Drehbuchautor*innen-Streiks.
Interview mit Kevin Feige und Iron Man-Regisseur Jon Favreau über die Anfänge des Marvel Cinematic Universes.
Neuer Trailer zu The Flash