Radioaktive Penisse, Memes und das Comicgeschäft
Willkommen bei Fan Theory of Everything, einem Newsletter über Superheld*innendebatten, -gossip und Comics. Mal funny-haha, mal funny-merkwürdig, mal beides. Es ist ein Versuch, eine Schneise durch das dicht verflochtene Gestrüpp zu schlagen, das über 90 Jahre Superheld*innengeschichte hervorgebracht haben.
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Noch vor drei Jahren hätte man sich nicht erträumen lassen, dass eine der häufigsten Reaktionen auf Fakenews im Netz eine blaue Comicfigur in Unterhose ist, aber wir leben ja bekanntlich in einer der absurdesten Welten. Viele kennen das Meme: Die Zeichnung eines blau leuchtenden, glatzköpfigen, halbnackten Mannes. Er schwebt und sein Licht strahlt auf eine Frau aus, die vor ihm steht. Die weibliche Figur ist mit der Aufschrift „Source?“ versehen, er mit „I made it up“. Das Bild stammt aus Doomsday Clock #2 und wird in seiner abgeänderten Form gerne im Kontext von unbelegten Falschbehauptungen verwendet. Was manche nicht wissen: Bevor das Bild zu einem Internetphänomen wurde, war es in der Comicszene im Mittelpunkt einiger Debatten, die alle damit zu tun haben, ob man einen Penis sehen konnte oder nicht.
Erfunden wurde die blau leuchtende Figur von Alan Moore und Dave Gibbon in den Achtzigerjahren als Teil der Watchmen-Reihe. Hauptthema des Comics war, dem Autoren Moore zufolge, Macht. Die würde bekanntlich korrumpieren. Und konsequenterweise korrumpieren die übernatürlichen Mächte von Superheld*innen auf übernatürliche Weise. Bei dem oben erwähnten Oppenheimer-artigen Charakter „Doctor Manhattan“, der sich wortwörtlich in eine menschliche Atombombe verwandelt, äußert sich das durch eine Entmenschlichung. Zu Beginn ist der blau strahlende Wissenschaftler noch recht empathisch; taucht im Anzug auf Beerdigungen auf und versucht seine Freund*innen zu trösten. Sein Verständnis für die Moralvorstellungen der Sterblichen lässt aber stetig nach. Gegen Ende hat er zuerst nur noch eine Unterhose an, bis er sich schließlich vollkommen nackt auf den Mars zurückzieht. Dort lebt er auf seinem durch Superkräfte erzeugten Schloss. Seine Nacktheit ist Symbol für sein zunehmendes Entfernen von menschlichen Gepflogenheiten.
Als 2017 Doomsday Clock #2 herauskam, aus dem das Comicbild stammt, das wir heute vor allem als das „I made it up“-Meme kennen, gab es einige negative Rückmeldungen. Viele hatten damit zu tun, dass Manhattan wieder überraschend in Unterhose auftrat. Nach den Geschehnissen der Watchmen-Comicreihe aus den Achtzigerjahren wirkt der schwarze Schlüppi auf manche wie ein Rückschritt. Vor allem weil sich Regisseur Zack Synder bei der Verfilmung von 2009 noch für einen deutlich sichtbaren, computergenerierten, frei schwingenden Penis entschieden hatte. Viele vermuteten, der Verlag hätte dem radioaktiven Superhelden nur deswegen etwas zum Anziehen gegeben, um neben den erwachsenen Leser*innen auch möglichst viele Kinder zu erreichen und so die Umsätze zu steigern. Es entfachte sich die vermutlich einzige Gewinnmaximierung-vs.-Kreative-Entscheidungen-Diskussion, die mit einem blau leuchtenden Penis zu tun hat.
All das scheint immer spannender zu werden, je mehr Kontext man erfährt. Kurz nach dem Erscheinen des Comics dachten Alan Moore und Dave Gibbons offenbar noch, dass sie über die Verhülltheit oder nicht-Verhülltheit ihrer Figuren zukünftig selbst entscheiden können. Auf einem Interviewpanel von 1987 fragt jemand aus dem Publikum nach den Urheberrechten für die Watchmen-Reihe. Moore entgegnet: „My understanding is that when Watchmen is finished and DC have not used the characters for a year, they’re [die Urheberrechte] ours.“ Und Illustrator Gibbons fügt dem hinzu: „What would be horrendous, and DC could legally do it, would be to have Rorschach crossing over with Batman or something like that, but I’ve got enough faith in them that I don’t think that they’d do that. I think because of the unique team they couldn’t get anybody else to take it over to do Watchmen II or anything else like that, and we’ve certainly got no plans to do Watchmen II.“ Die Existenz von dem erwähnten Comic Doomsday Clock von Goeff Johns und Gary Frank dreißig Jahre später lässt bereits vermuten, dass Gibbons Befürchtungen damals angebracht waren. Jahrelang legte der Verlag DC die Comicreihe regelmäßig neu auf, um die Rechte nicht an seine Urheber abgeben zu müssen. 2009 erschien die Verfilmung, 2012 die ersten Hefte von Before Watchmen mit unterschiedlichen kreativen Teams; beides ohne Absprache mit Moore und Gibbons. Letzterer hat offenbar weitestgehend Frieden mit der Sache geschlossen. Zu einer Watchmen-Spielfilmserie von 2019 (die zufälligerweise auch eine Social-Media-Debatte zu Manhattans Penis zur Folge hatte) äußert er sich recht positiv. Autor Alan Moore ist bis heute so sauer auf den Verlag, dass er etwa einmal im Jahr auf Superheld*innen-Comics schimpft.
Es lässt sich (wie ich es mit unterschiedlichen Comic-Hintern schon einmal gemacht habe) anhand der Darstellung von Manhattans primärem Geschlechtsteil ganz gut erzählen, wie sich Mainstreamcomics in den letzten fünfzig Jahren entwickelt haben. Während mit dem Dark Age of Comicbooks und dem Aufkommen der Graphic Novel in den Achtzigerjahren noch möglichst versucht wurde, die älter werdende Leser*innenschaft zu bedienen, gab es in den Nullerjahren eine Rückbesinnung auf jüngere Fans. Die eigentlich als düster angelegten Figuren aus Watchmen wurden mit dem Batman-Superman-Wonderwoman-Hauptuniversum verschmolzen. Doctor Manhattan musste sich wieder etwas anziehen. Man muss allerdings auch ehrlicherweise zugeben, dass die Unterhose in späteren Heften von Doomsday Clock wieder verschwindet und die Figur wieder nackt auftritt. Ob aus künstlerischen oder strategisch-finanziellen Gründen, um die erboste Fanbase zu beruhigen, bleibt unklar. Sicher ist nur, wie unterhaltsam das Ganze zu beobachten ist.
Superheld*innen-Nachrichten diese Woche:
Zunächst sah es so aus, als würde sich der Hollywood-Streik der Drehbuchautor*innen dem Ende zuneigen. Die Gewerkschaft hat vorerst einem Beschluss mit den Studios zugestimmt. Allerdings wollen sie weiter streiken, solange den Forderungen der Screen-Actors-Guild (SAG-AFTRA) nicht zugestimmt wird. Dies sieht aktuell nicht so aus. Studios drohen mit einem Verhandlungsstop bis Anfang 2024. Der Versuch einiger Schauspieler*innen den Streik mit Spenden zu beenden, ist gescheitert.
GQ befragt Martin Scorsese in einem langen Portrait unter anderem zu seiner Meinung zu Marvel; wohlwissend, dass die Presse am Ende wieder nur darüber berichten wird.
Disney kündigt das komplette Daredevil-Drehbuchteam und will die Produktion neustarten.
Der Re-Release des Schwarz/weiß-Films Werewolf by Night in Farbe irritiert einige.
Spieleentwickler NetEase kündigt neues Game an, dessen Bewegungsmechanik der von Marvel’s Spiderman sehr ähnlich sieht.
Tiktoker spaziert im neuen Marvel’s Spiderman 2 von Brooklyn nach Harlem, um sich zu Fuß (und Fahrrad) das digitale New York anzuschauen.