Gwen Stacy ist trans
Willkommen bei Fan Theory of Everything, einem Newsletter über Superheld*innendebatten, -gossip und Comics. Mal funny-haha, mal funny-merkwürdig, mal beides. Es ist ein Versuch, eine Schneise durch das dicht verflochtene Gestrüpp zu schlagen, das über 90 Jahre Superheld*innengeschichte hervorgebracht haben.
Unterstützen könnt ihr meine Arbeit mit 1 € Trinkgeld auf Kofi oder einem Abo. Subscriber*innen bekommen Zugang zu Zusatzinhalten wie Comictipps, Serienbesprechungen und dem Substack Chat, wo mir weitergehende Fragen gestellt werden können.
Selbst wenn man den neuen animierten Spider-Man-Film nicht gesehen hat – solange irgendeine Form von Social Media konsumiert, Marvel-News verfolgt oder Comics gelesen wurde, waren die Auswirkungen dieses Medienevents deutlich zu spüren. Spider-Man: Across the Spider-Verse ist aktuell überall. Es gibt Fanart sowie Häkelanleitungen zu mehreren Figuren. Das digitale Kartenspiel Marvel Snap hat diese Saison Spider-Man-Karten mit klarem Bezug zum Film und Marvel Entertainment publizierte im letzten Monat fünf verschiedene Spider-Man-Comics – unter anderem eine komplett neue Spider-Man: India-Reihe (siehe Comictipps). Auf Twitter entdeckten Fans kollektiv ein Comic von 2019, in dem Spider-Man aka Miles Morales eine Katze ist: Spider-Cat aka Meows Morales. Zeitgleich sprachen zahllose Tiktoker*innen über ihre „Canon-Events“; ein Begriff, der sich in dem Kontext an das Vokabular von Across the Spider-Verse anlehnt (Link enthält Spoiler). Ebenfalls beschäftigte das Netz in letzter Zeit die Tatsache, dass es wohl mehrere Versionen des Films in US-amerikanischen Kinos gibt und dass die Arbeitsbedingungen im Studio katastrophal gewesen sein sollen. Eine der Diskussionen rund um den Film, die mich aber aktuell am meisten beschäftigt, betrifft die Geschlechtsidentität von Spider-Gwen.
Gwen Stacy aka Ghost-Spider, Spider-Woman oder Spider-Gwen, um deren Tod es unter anderem in letztem Newsletter ging, ist trans. Das behaupteten bereits einige, als man im Trailer deutlich eine „Protect trans Kids“-Flagge in Gwens Zimmer sehen konnte. Nach dem offiziellen Erscheinen des Films entdeckten dann manche Fans die kleine Transflagge auf der Polizeiuniform von ihrem Vater und bemerkten außerdem eine allgemein recht blaue, pinke und weiße Farbgebung von Ghost-Spiders Umgebung.
Gwens tragische Hintergrundgeschichte in Across the Spiderverse handelt von ihrer Beziehung zu ihrem Vater und der Angst, nicht von ihm als Spider-Woman akzeptiert zu werden. Viele Eckpfeiler des Superheld*innen-Genres wie das Verstecken hinter einer Maske, geheime Identitäten und der Umgang mit Andersartigkeit können ziemlich einfach als Allegorie auf Queerness gelesen werden. Diesmal scheinen die Macher*innen aber so viele Hinweise auf die Geschlechtsidentität von Gwen gestreut zu haben, dass das Ganze weniger wie eine von vielen möglichen Interpretationen, sondern wie eine Tatsache wirkt. „If you think Luke is gay, of course he is“, erklärte Star Wars/Luke Skywalker-Schauspieler Mark Hamill einmal in einem viel zitierten Interview von 2016. „It’s meant to be interpreted by you!“, fügte er hinzu. Ähnliche Aussagen lese ich aktuell viel im Zusammenhang mit der Fantheorie um Gwen. Und auch wenn ich die Geste in manchen wohlwollenden Momenten zu schätzen weiß, fühlt es sich fast immer auf unangenehme Art gönnerhaft an. In Spider-Gwens Fall besteht nicht nur die Möglichkeit, dass sie trans sein könnte. Sie ist trans.
Die ganze Debatte wiederholt eine recht alte Dynamik innerhalb von Mainstream-Popkultur. Etwa Ende der Nullerjahre kam zum ersten mal das Wort Fanon (manchmal auch Headcanon) auf, das später in der Hochphase von Tumblr popularisiert wurde. Während Canon alles umfasst, was offiziell zur Handlung einer Geschichte gehört, bezeichnet Fanon alle Theorien und Lesarten von Fans um die Geschichte herum. Thanos hat im Marvel Cinematic Universe die Hälfte aller Lebewesen ausradiert = Canon, Ant-Man hätte Thanos besiegen können, wenn er sich klein gemacht, in eine beliebige Körperöffnung gekrochen und wieder groß gemacht hätte = Fanon.
Schon von Beginn an ist die Geschichte des Headcanons/Fanons eng verknüpft mit Theorien über die Sexualität und Geschlechtsidentitäten von fiktiven Figuren. Als 2011 Captain America: The First Avengers erschien, wurde von Fans schnell die Theorie gesponnen, die zwei Protagonisten Steve Rogers und Bucky Barnes hätten mehr als eine freundschaftliche Beziehung. Graphische Erotica wurde geschrieben und mehrere tumblr-Blogs speziell zum romantischen und sexuellen Verhältnis der beiden erstellt. Belustigt sehen das Ganze viele als das Gespinst von hormongesteuerten Teenagern an. Was sich dahinter allerdings verbirgt ist die Nachjustierung einer klaffenden Lücke im Marvel-Canon. Nur vier der über fünfzig Held*innen im Marvel Cinematic Universe sind offiziell queer (Loki, Sylvie, Phastos, Korg). Kurz nachdem Loki in der gleichnamigen Serie sein beiläufiges Coming Out als bisexuell gegenüber seinem weiblichen Ich aus einem Paralleluniversum hat, küssen sie sich. Wir haben im MCU eine inzestuöse Form von Selbstliebe gesehen, bevor es echte schwule oder lesbische Repräsentation gab. Vor dem Hintergrund kann man sehr gut nachvollziehen, warum das Bedürfnis nach queeren Beziehungen so groß ist, dass sich Fans diese Geschichten schlussendlich selbst schreiben.
Viel zu oft wird in Mainstream-Popkultur queere Repräsentation höchstens angedeutet. Und wenn sie dann doch als Korrektur des Canon in Form von Fantheorien, Fanart oder Fanon auftaucht, belustigt als Trash aus der Schmuddelecke dargestellt. Der Tatsachenbestand für Gwen Stacys Transness ist so eindeutig, dass ich mich weigere, sie als eine von vielen möglichen Interpretationen zu sehen. Im Rahmen von Across the Spiderverse ist Ghost-Spider trans.
Superheld*innen-Nachrichten diese Woche:
Neuer Trailer für Kraven The Hunter
David Corenswet und Rachel Brosnahan als Superman und Lois Lane für den Superman Legacy-Film gecastet.
Erste Setbilder von der zweiten Staffel The Sandman
The Flash scheitert finanziell, sorgt aber immerhin für einen der absurdesten Popkornbehältnisse, die ich je gesehen habe und einen neuen Filter auf Tiktok.
Das Intro von Secret Invasion wurde mithilfe AI-Software erstellt. Disney verteidigt die Entscheidung nach viel Kritik beim Hollywood Reporter.
Die deutschen Verlage Panini und Ehapa starten digitale Comic-Abo-Plattform Swoosh.
Deutscher Verlag Zwerchfell wird zukünftig keine neuen Bücher publizieren.
Namor-Schauspieler Tenoch Huerta verlässt nach Vorwürfen sexuellen Missbrauchs Netflix-Filmprojekt.
Anwälte von Kang-Schauspieler Jonathan Majors behaupten sein gewalttätiges Verhalten am Set wäre Method Acting.
VFX-Künstler erklärt, warum CGI in Superheld*innen-Filmen zunehmend schlechter werden.
Angelehnt an das fiktive Musical in Hawkey eröffnet Disneyland ein echtes Rogers the Musical.
Jack Kirbys Familie kritisiert neue Stan Lee Dokumentation.
Sony zeigt neue Anzugdesigns für das Marvel’s Spider-Man 2-Spiel.