Warum Sandman so irritierend, langweilig und großartig ist
Willkommen bei Fan Theory of Everything, einem Newsletter über die aktuelle Woche in Superheld*innendebatten, -gossip und Comics. Mal funny-haha, mal funny-merkwürdig, mal beides. Es ist ein Versuch, eine Schneise durch das dicht verflochtene Gestrüpp zu schlagen, das über 90 Jahre Superheld*innengeschichte hervorgebracht haben.
Unterstützen könnt ihr meine Arbeit mit 1 € Trinkgeld auf Kofi oder einem Abo.
Meine erste Begegnung mit Sandman war vermutlich Anfang der Nullerjahre, als man Comics noch aussuchte, indem man in den nächstbesten Buchladen stolperte und mit einem vagen Bauchgefühl wahllos Bände aus dem Regal nahm. Dass man keine 10 Jahre später im Internet nachschlagen können würde, was sich zum Einstieg eignet, ahnte damals noch niemand. The Sandman: Endless Nights war das erste, was ich damals von der Reihe las; ein Sammelband mit Kurzgeschichten von Autor Neil Gaiman, jeweils gezeichnet von unterschiedlichen Illustratoren (tatsächlich nur Männer, was sich deutlich bemerkbar macht); voll mit düsteren Collagen und nackten Menschen. Ich war 14 und sehr irritiert. In den nächsten fünf bis acht Jahren nahm ich kein Sandman-Comic mehr in die Hand.
Es ergibt Sinn, dass die aktuelle Netflix-Verfilmung ab 18 ist; nicht nur wegen der blutigen Aspekte, sondern weil Sandman irritieren möchte. Die Achtziger- und Neunzigerjahre waren die Jahrzehnte, in denen viele Comickünstler*innen im Superheld*innenbereich teils durch Ehrgeiz, teils durch Rechtfertigungsdruck versucht haben, ihr Medium möglichst erwachsen zu gestalten. Alles wurde ein wenig düsterer, ranziger und brutaler Antiheld*innen wie Judge Dredd und Punisher hatten ihre Hochphase. Man orientierte sich deutlich erkennbarer an Literatur und Kunst. Umfangreichere, abgeschlossene Comics wurden zum ersten mal Graphic Novels genannt. Und die Möglichkeiten des Mediums wurden so gut es ging ausgereizt.
In diese Zeit wurde Sandman hineingeboren. Offiziell spielte das Ganze zu Beginn noch im DC Universum, tonal und thematisch grenzte sich die Reihe aber klar von farbenreichen Superheld*innencomics wie Justice League International #24 aus dem selben Jahr ab. Der capetragende Bösewicht Doctor Destiny, der in den Sechzigerjahren noch Batman und Superman geklont hat, wird im ersten Band von Sandman zu John Dee, einer tragischen Figur, die aus der Psychiatrie Arkham Asylum ausbricht. Die biblischen Brüder Abel und Cain sowie Lucien (Lucienne in der Netflixserie) stammen ursprünglich aus dem 70er-DC-Horror-Comic Tales of Ghost Castle, gehören in Sandman aber plötzlich zum Dreaming, die für das Comic erschaffenene Traumwelt. Constantine hatte mit Hellblazer ein Jahr zuvor schon seine eigene Reihe. 1993 gründete sich der DC-Tochterverlag Vertigo, der vom Hauptuniversum abgetrennte Geschichten für ein erwachsenes Publikum publizierte. Sandman war (mit Constantines Soloreihe) einer der ersten Titel, der dorthin wechselte.
Letzte Woche habe ich die Netflixadaption mit wachsender Begeisterung geschaut. Die Serie schafft es gleichzeitig sehr nah am Original zu sein und mit nur leichten Änderungen auf eigenen Füßen zu stehen. Alles ist deutlich weniger ranzig als in den ersten Comics aus den Achtzigerjahren. Die Welt ist wunderschön, einzelne Bilder gekonnt in Szene gesetzt und der Cast wirkt deutlich attraktiver als ihre Vorbilder, aber nie auf eine unpassende Art. Sowohl Dream – der Sandman – als auch Desire und Lucifer hatten eine fast hypnotische Wirkung auf mich.
Gleichzeitig fiel mir aber auf, dass die Serie durch die Nähe zum Comic ganz ungewöhnlich erzählt ist und sich ihrem Staffelformat förmlich widersetzt. Nach dem ersten Haupterzählstrang, in den Episoden eins bis fünf, gibt es plötzlich eine Zwischenbilanz mit dem Protagonisten, der sich mit einem riesigen Baguette Tauben fütternd fragt, wie es jetzt überhaupt weitergehen soll. Nach der Hälfte der Folge springt es dann zu einer davon weitestgehend losgelösten Geschichte über die Beziehung zwischen Dream und einem unsterblichen Menschen. Episoden sieben bis zehn erzählen dann wieder eine andere Handlung mit teils vollständig neuen Figuren. Viele Zuschauer*innen, die temporeich erzählte Serien gewöhnt sind, in denen sich Twists im Finale zu einem Gesamtbild zusammenfügen, wird das mit Sicherheit irritieren. Die antiklimaktische Spannungskurve wirkt beim ersten Sehen fast langweilig.
„The comics were always the bible. Sometimes they were more the old testatment. We let things change, but the things that changed tended to change with the times“, sagt Neil Gaiman, Autor der Comics, der auch an der Verfilmung mitgewirkt hat, in einem Interview über die Netflixserie. Die merkwürdige Staffelstruktur ergibt deutlich mehr Sinn, wenn man bedenkt, dass Folge eins bis einschließlich der ersten Hälfte von sechs die Geschichte des ersten Bands umfassen und die zweite Hälfte von Folge sechs bis 10 Band zwei. Die irritierende Taubenfütter-Pause ist an dieser Stelle, weil damit Band 1 Preludes and Nocturnes abschließt. Alles weitere gehört zu Dollhouse.
Eine ganze Weile habe ich mich darüber gewundert, warum die Episodenanzahl nicht reduziert, oder Prelude and Nocturnes nicht auf zehn Folgen ausgestreckt wurde. Dann ist mir wieder eingefallen: Sandman will irritieren. Schon die Comics haben vorwiegend über Bilder und Dialoge funktioniert. Das Wechseln zwischen sehr schnell erzählten Handlungssträngen und langatmigen Kurzgeschichten mag den*die ein oder andere*n stören, aber es ist in diesem Fall genau das, was eine werkgetreue Adaption von Sandman ausmacht.
Andere Superheld*innen-Nachrichten diese Woche:
Die I am Groot-Shorts sind jetzt auf Disney+
Neue Bilder von Daredevil [1, 2] aus der nächste Woche erscheinenden She-Hulk-Serie
Neuer Teaser von She-Hulk, ein Clip, Character-Poster und ein Behind-The-Scenes-Video
Daredevil: Born Again beginnt nächstes Jahr mit den Dreharbeiten.
Die Gotham Knights-Serie wurde eingestellt.
Matthew aus Sandman wird von dem Raben Mr. T gespielt. Jessamy von dem Vogel Velcro, der offenbar ein Schildrabe ist.
Erste Setfotos zu Iron Heart; unter anderem von Riris Rüstung und dem Bösewicht The Hood.
Moon Knight-Regisseur Mohamed Diab weist darauf hin, dass es noch keine konkreten Pläne für eine zweite Staffel gibt.
Schauspielerin Rosario Dawson behauptet auf einem Panel, es gäbe eine neue Staffel Punisher, korrigiert sich dann aber später: „Getting intel from fans during signings is iffy apparently. My bad.“
Designer von dem Gotham Knights-Spiel sprechen über Kostüme und Anpassungsmöglichkeiten.
Midnight Suns-Game wurde auf 2023 verschoben.
Schauspielerin Halle Bailey widerspricht Gerüchten, dass sie als X-Men Kitty Pryde gecastet worden sei.
Im Rahmen des ersten Trailers für Pennyworth Staffel 3 wurde die Serie zu Pennyworth: The Origins of Batman‘s Butler umbenannt und Menschen machen sich auf Twitter über den sehr trockenen Titel lustig.